Freitag, 18. Mai 2018
Mein Weg in die Angststörung
Mit einem kräftigen Ruck schließt sich die Doppeltür der in die Tage gekommenen Tram. Ein letztes Bimmeln macht mir klar, ich bin gefangen. Mit einem Stoß setzt sich der vollbesetzte Wagon in Bewegung. Eine Hand sichert den Koffer, die andere umklammert die kalte eiserne Haltevorrichtung unweit der Tür, welche sich vermutlich nicht nur aus Metall sondern auch aus unzähligen Bakterien zusammensetzt.

Die Geräusche um mich herum werden dumpf, verstummen langsam, nur der Mund der übergewichtigen jungen Mutter bewegt sich noch, während einer ihrer Handy ein Smartphone spiel bedient und die andere in Richtung ihrer vier Kinder gestikuliert. Ihren vermutlich tiefgehenden Gedankengängen kann ich akustisch nicht mehr folgen. Mein Blick verschwimmt, nur ein kleiner Fokus bleibt bestehen. An dieser Stelle weiß ich, dass mich nur noch Sekunden von einem möglichen Ausbruch der Panik trennen. Konzentration. Konzentration darauf, mich nicht zu übergeben und darauf, nicht in kaltem Schweiß zu ertrinken. Meine Handinnenflächen werden Rot, fester konnte ich die Haltestange nicht umklammern.

Ich bemerke wie meine Haut blass wird. Exakt vierzehn Haltestellen trennen mich von meinem Ziel. Sechzehn Minuten muss ich überstehen, ohne Ohnmächtig zu werden, Durchfall zu bekommen oder mich zu übergeben. Mit einem nicht vorhersehbaren Schaukeln schlängelt sich die alte Tram durch das unebene Gleisbett zur nächsten Haltestelle. Die Tür öffnet, frische Luft füllt meine Lungen, die Anspannung lässt nach. Die Tür schließt, der Griff wird fester, ich spüre wie meine Innereien in Wallung geraten. Meine Hosentasche vibriert. WhatsApp, wo die Tickets sind, fragt meine Freundin, die einen Platz am anderen Ende des Waggons ergattern konnte. Übelkeit, antworte ich. Langsam bewege ich meinen Kopf in ihre Richtung und versuche ihn ruhig aber bestimmt von links nach rechts zu schwenken, ohne mich dabei zu übergeben. Eine andere Hand erscheint wie aus dem Nichts an der Haltestange. Ich spüre ihre Wärme. Ein sich wiederholender Luftzug erreicht meinen Nacken. Wieder und wieder. Jemand muss an mir vorbei. Ich muss mich bewegen, meinen Standort verändern. Die Blase drückt. Das auch noch.

Am Ende habe ich es geschafft und mein Ziel erreicht, der schlimmste Teil des Tages war überstanden. Im wilden Treiben des Berufsverkehrs halte ich Inne und hole mich auf den Boden der Realität zurück. Mein Blick fixiert all die Menschen, denen ich vermutlich nicht ansatzweise erklären könnte was mein Problem ist. Ach, wie gern wäre ich normal. Oder doch nicht?
Vor etwa zehn Jahren hatte ich meine erste Panikattacke. Zu dem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass ich sterben würde. Ich konnte nicht richtig atmen, kalter Schweiß durchnässte binnen weniger Sekunden meine Kleidung, die Realität schien hinter einer Art Vorhang zu verschwinden. Das Fenster, welches in der damals aktuellen Einraumwohnung in unmittelbarer Nähe war, schien kilometerweit entfernt. So schnell ich konnte riss ich es auf und schnappte nach frischer Luft.

Erst nach fünf Minuten konnte ich meine Aufmerksamkeit von mir auf meine hilflose Freundin richten. Es war so, als wäre sie nicht dagewesen, so als hätte nur ich in diesem Moment existiert. Minuten später googelte ich nach der Notfallnummer der nahegelegenen Uni-Klinik. Kurz darauf nahm ich Platz im Warteraum der Notaufnahme. Noch heute erinnere ich mich an alle anderen Patienten die um mich herum verteilt waren. Ohne einen klaren Fokus aufbauen zu können, vernahm ich ein Gespräch, bei dem ein ausländischer Herr nach seinem Tabakkonsum befragt wurde. Zwanzig Zigaretten pro Tag, die seien schuld an seinem Herzinfarkt, höre er nicht auf, so läge er schon nächste Woche wieder hier oder auf dem Friedhof. Der Arzt ließ den Mann wortlos zurück, als Schwestern an sein Bett eilten und die Entlassung vorbereiteten. Diese Information habe ich bis heute gespeichert. Genau wie all jene andere Informationen, welche Krankheits- bzw. Symptom-bezogen sind. Zwanzig Zigaretten, das ist auch etwa mein aktueller Schnitt. Ein junger Assistenzarzt nahm neben mir Platz. Er würdigte mich keines Blickes, während er mir verschiedene Fragen stellte und meinen Blutdruck überprüfte. Mir fehle nichts, ich sei kerngesund. Ob ich Drogen nehme? Naja hier und da kiffe ich schon mal. Das hatte ihm wohl gereicht um mich an die neurologische Klinik der Stadt zu überweisen. Keine zehn Minuten später startet der Motor eines komfortablen Mercedes Vito. In dem Patientenshuttle sind nur der Fahrer und ich, welcher mich zu besagter Klinik chauffieren sollte.

Wir wechselten kein Wort. Nächste Notaufnahme, nächste Befragung, nächster Check. Folgen Sie dem Licht. Nehmen Sie Drogen? Ihnen fehlt nichts. Hatten Sie schon einmal eine Panikattacke?
Da war es, das Wort welches meine nächsten Lebensjahre gravierend bestimmen würde. Erst Monate später verstand ich, dass ich ein Problem hatte, welches nicht mit Medikamenten oder Impfungen gelöst werden konnte.

Eine generalisierte Angststörung, so nannte es mein erster Therapeut nach der dritten Sitzung.

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